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Fürchte dich nicht
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Fürchte dich nicht

Andacht von Nele Poldrack, Pfarrerin in Leegebruch, Velten und Marwitz, Seelsorgerin in der Klinik Sommerfeld

Wenn in der Schule Klassenarbeiten geschrieben wurden, hatte ich Angst. Ich versuchte, krank zu sein. Mit wenig Erfolg. Einmal hatte ich sehr viele grüne Äpfel gegessen. Meine Mutter hatte mich immer gewarnt: „Iss die nicht, dir wird schlecht werden!“ – Aber mir wurde nicht schlecht. Ich blieb im Bett liegen und sagte zu meiner Mutter: „Ich kann nicht aufstehen, mir ist so schwindelig. Und ich habe Bauchschmerzen.“ Sie hatte sehr schnell heraus, dass ich log und dass hinter der Lüge die Angst steckte. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich liebevoll und energisch losschickte in die Schule. Mit der Zeit machte ich immer wieder die Erfahrung, dass ich ganz gut konnte, was in der Klassenarbeit dran war. Heute gibt es Situationen, vor denen mir tatsächlich schlecht ist und ich Durchfall und Bauchschmerzen habe. Aber dann spüre ich in mir drin die Ermutigung: „Augen auf und durch – hinterher wird es dir besser gehen!“ Und so ist es. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Bei meinem Zahnarzt im Wartezimmer hängt der schöne Spruch: „Keine Situation ist so schlimm wie die Angst davor.“
In der Bibel gibt es viele Male die Ermutigung von Gott: „Fürchte dich nicht!“ Und ich möchte dieses Wort genau und persönlich hören. Wenn ich mich nicht fürchte, kann ich frei sein. Brauche ich keine Mauern und Zäune, muss ich mich nicht verteidigen. Kann sagen, was ich denke. Kann genießen, dass der andere anders ist. Ich lese in der Zeitung, dass sich die Rüstungsexporte Deutschlands seit dem letzten Jahr verdoppelt haben. Angst gebiert Abschreckung. Die Aufrüstung ist in vollem Gange. Jede dritte Waffe, durch die Menschen sterben – auch in den furchtbaren Massakern der letzten Tage –, ist eine deutsche Waffe. Scham steigt in mir hoch. Denn ich lebe in Deutschland auf Kosten derer, die anderswo sterben. Auf Kosten derer, die verzweifelt einen Ort suchen, an dem sie bleiben können. Und bei uns streiten sich die Behörden, wer die frei gewordenen Flüchtlingsunterkünfte bezahlt. Wir können was dafür, wenn wir nichts dagegen tun! Ich schäme mich, weil ich dieses Tun in der deutschen Politik nicht sehe. Diese Scham ist größer als die, von der Mutter bei der Lüge ertappt worden zu sein. Ja, werden Sie sagen, ist die naiv. Hat ja keine Ahnung von der Welt. – und ich sage: Ja, ich bin naiv und ich will es bleiben – weil ich Gott vertrauen will, dass er Recht hat und Gerechtigkeit schafft. Und weil meine Mutter mir geholfen hat, auf das „Fürchte dich nicht!“ zu vertrauen.
Nele Poldrack, Pfarrerin in Leegebruch, Velten und Marwitz, Seelsorgerin in der Klinik Sommerfeld
erstellt von Mathias Wolf am 10.07.2016, zuletzt bearbeitet am 04.01.2021
veröffentlicht unter: Andachten 2019

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